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Eurythmie

Rudolf Steiner entwickelte die Eurythmie ab 1912 als Bewegungskunst, etliche Jahre bevor sie als ein eigenständiges Fach in den Lehrplan der ersten Waldorfschule aufgenommen wurde. Seitdem ist sie ein zentrales Fach in der Waldorfschule. Sie begleitet die Kinder vom Kindergarten ab und von der ersten bis zur zwölften Klasse. Die Eurythmie dient als wichtiges Fach zur Menschenbildung und ihre Anwendung wird dem Lebensalter und der Klassenentwicklung angepasst. Die inneren Bewegungsintentionen, welche dem sprechenden und hörenden Menschen eigen sind, finden ihre Äußerung in einer Gebärdensprache des ganzen Menschen und des gesamten Körpers - in einer „sichtbaren Sprache“ oder in einem „sichtbaren Gesang“. Diese „Sprache“ entspringt dem Menschenwesen selbst und nutzt den Körper als Ausdrucksmittel und als Instrument bei der weiteren Bildung dieses Ausdrucksmittels. Die Verstärkung der Willenskraft und der Initiative, die Förderung der Phantasie und der Kreativität, die Festigung des Denkens sowie ein gesteigertes Selbstbewusstsein sind die sicht- und spürbaren Resultate einer langjährigen und kontinuierlichen Eurythmieförderung.

Unterstufe - Klassen 1-4
In den ersten vier Schuljahren werden die Bewegungen der Kinder durch bildhafte Elemente inspiriert, geleitet und bilden den Ausgang für nachahmende Bewegungsabläufe. In diesen Jahren findet eine große Vielfalt an sprachlichen, musikalischen und rhythmischen Bewegungsabläufen ihre Anwendung, um die seelische Entwicklung zu fördern und zu untermauern. Die Feinmotorik wird dabei vom Anfang an durch Geschicklichkeitsübungen geschult und ausgebildet.

Mittelstufe - Klassen 5 – 8
In diesen Schuljahren wird besonderer Wert auf die grammatikalischen Formelemente gelegt. Schönheit, Rhythmus und die Form der Sprache werden als gegliederte Einheit erkennbar gemacht, erlebt und eingeübt. Ab der 5. Klasse wird die Geometrie verstärkt in den Unterricht eingeführt. Sie wird durch die eigene Gestalt und im erlebten Raum abstrakt und kognitiv erkannt und physisch erfahren und umgesetzt in anspruchsvoller werdenden Übungen.
Die Fünfstern- und Siebensternübungen unterstützen und fördern das wachsende Orientierungs- und Abstraktionsvermögen und geben den Kindern Sicherheit. Das selbstständige Verstehen und Organisieren der Bewegungsabläufe, wie auch ein inneres Streben nach Exaktheit darin, muss in allen Übungen eingebracht, gefordert und vermittelt werden. Am Ende der oberen Mittelstufe werden Balladen und größere, musikalische Gruppenformen eingeübt. Das soziale Miteinander wird angeregt, gepflegt und ausgebaut.

Was ist und was will die Eurythmie?

Eurythmie ist eine Bewegungskunst, die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten gegenüber dem Tanz hat. Tanz steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Musik, der Tänzer bewegt sich nach der Musik, das Spektrum ist weit gefächert vom traditionellen Volkstanz bis zum klassischen Ballett, vom Jazz-Dance bis zum Hip-Hop.

Die Eurythmie drückt auch die verschiedenen Qualitäten der Musik wie Rhythmus, Intervalle usw. durch Bewegungen in der sogenannten Toneurythmie (sichtbarer Gesang) aus.

Das wesentlich «Neue» jedoch an dieser Bewegungskunst ist, dass die Sprache durch die Bewegungsformen der Eurythmie mit sichtbar gemacht wird. Das ist das Hauptgebiet der Eurythmie, welche als Lauteurythmie bezeichnet wird (sichtbare Sprache).

Wie kann ein Zusammenhang zwischen Sprache und Bewegung bzw. Bewegung zur Sprache entstehen?

Heute versteht man unter Sprache ja vor allem ein System von Zeichen, das auf gedankliche Inhalte hinweist. So betrachtet ist die Sprache zu einer Vermittlerin von Informationen und Inhalten geworden. Um die Eurythmie aber als Kunst der sichtbar gemachten Sprache zu verstehen, müssen wir noch einige andere Aspekte mithinzunehmen.

Die Sprache, wie sie z.B. der Dichter verwendet, dient nicht nur allein der inhaltlichen Informationsübertragung, sondern der Dichter will durch seine Worte mehr ausdrücken. Er weist auf ein hinter der Sprache «Stehendes» hin, was mitverstanden wird, aber unausgesprochen bleibt. Dazu kommen weitere Elemente zur Geltung: Der Reim, der Rhythmus, das Metrum, der Klang, der Bildcharakter, all das macht die Sprache zu einem Kunstwerk (Dichtkunst). Der Dichter drückt mit diesen Mitteln mehr aus als nur die Information. Naturimpressionen werden wachgerufen. Gedanken und Gefühle werden verdeutlicht. Sogar Willensimpulse können ebenso stark zum Ausdruck gebracht werden.

Wir müssen jedoch noch weiter gehen. In der Eurythmie steht man nun vor der Aufgabe, dass sich das Wort als Klang vom Gedankeninhalt absondern soll. Es soll als reine Lautgestalt betrachtet werden. Jedes Wort hat seine eigene Lautfolge. In dem Wechselspiel zwischen Vokalen und Konsonanten entsteht der ganze klingende Reichtum der Sprache. Ein solches Erfassen verlangt ein heute unübliches Sich-Einhören in den Charakter einzelner Worte bzw. Laute (Vokale und Konsonanten). Die Betrachtung des Informations- bzw. des Begriffsinhaltes der Sprache bleibt in der Eurythmie marginal. Künstler wie Kandinsky haben auf dem Gebiet der Malerei mit den Farben ebenso einen neuen Zugang zum Malerischen geschaffen, sich in die Qualität der einzelnen Farben hineinzuleben und diese zu beschreiben (Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst).

Eine solche Betrachtung führt zu einer Steigerung des ästhetischen Empfindens und zu einem Verstehen, was bewußtes seelisches Miterleben bedeutet.

Wir wollen nun eine kurze Betrachtung dieser Aussagen in Bezug auf die Vokale und Konsonanten machen:

Der Inhalt der Vokale äußert sich am deutlichsten in Interjektionen. Bei einem schönen beeindruckenden Erlebnis erfährt man vor allem Bewunderung. Sie erfüllt die Seele. Wenn diese sich nach außen kund gibt, wird sie zum Vokal «Ah» (ähnliches kann beim Ausrufen des «Oh» empfunden werden, während das «Uh» oft mehr die Kälte, Furcht ausdrückt). In den Vokalen ertönen Erlebnisse des Inneren wie der Mensch auf äußere Begebenheiten differenziert reagiert.

Andere Erlebnisse haben wir dagegen bei den Konsonanten. Im Aussprechen des «W» z.B. hört man einen fortbewegenden, vibrierenden, schwingenden Klang, der von innen nach außen dringt. Die innere Anschauung einer sich fortbewegenden Welle kann sich aufdrängen, so wird der Laut unmittelbar in seiner eurythmischen Gebärde erfaßt. Dagegen enthält der Konsonant «B» mehr eine formende Gebärde. Was in ihr deutlich wird, ist die schützende Hülle, es wird ein Innenraum umhüllt (jedes Umarmen hat
dieses Beschützende). Konsonanten sind ihrem «Inhalt» nach bestimmte Bewegungen, Gestaltungsvorgänge, wie sie sich in der Natur vollziehen (siehe Beispiel der Welle) oder wie der Mensch auf seine Umwelt reagiert (Beispiel des «B»). Wir haben zunächst nur einzelne Laute betrachtet. Von hier aus erschließt sich aber ein erweiterter Sinn der Bedeutung der Sprache. In jedem Wort fließt durch die Verbindung der Vokale mit den Konsonanten immer ein seelisches Erleben mit. Daraus entstehen Möglichkeiten des künstlerischen Gestaltens.

Die Sprache ist jedoch nicht nur ein Vorgang der Atmungs- und Artikulationsbereiche (Kehlkopf, Gaumen, Zahn und Lippen), sondern beim Sprechen wie auch beim Hören bewegt der Mensch Finger, Hände, Arme, Schultern und Kehlkopf mit. In der Regel sind diese Bewegungen sehr gering. Die Untersuchungen des Amerikaners William S. Coudon ergaben solche Erkenntnisse. W. Coudon spricht von sogenannten Mikrobewegungen, die sich bei jedem Sprechen oder Hören ergeben. Je nach Sprache sind diese unterschiedlich intensiv.

Zusammenfassend können wir also sagen, dass Sprechen ein Vorgang ist, der den Menschen viel umfassender ergreift, als man es allgemein denkt. Die Sprache trägt in sich die Tendenz zu Bewegung und Gestaltung. Und beim Sprechen der Laute und Worte finden feine Mikrobewegungen statt, die in ihrer vollen Entfaltung zur eurythmischen Bewegung führen. So wird die Eurythmie zu einer sichtbaren Sprache.

Wozu führt aber ein solches Bewegen zu den Lauten (zu Rhythmus, Intervallen etc.)?

Wir haben aus den vorherigen Betrachtungen sehen können, dass es zu einem differenzierten Lautempfinden kommen muß, um einzelne Laute gestalten zu können. Was gehört und empfunden wird, und was sich als Bewegung und Gestaltung äußert, soll in der Eurythmie vom ersten Ansatz der Bewegung bis in ihre letzte Phase hinein sichtbar werden. Unsere unbewußten gewöhnlichen Bewegungen können nicht zu einer solchen Gestaltung kommen. Sie müssen erst bewußt geübt werden. Wie alle Kunst, versucht auch die Eurythmie zu einer Sensibilisierung der Bewegungen (Sinne) hinzuführen. Eurythmie führt so zum Bewußtwerden, zum «Aufwachen in der Bewegung». Durch das Einüben dieser künstlerisch gestalteten Bewegung (oder anders ausgedrückt: innerlich, bewußt durchlebten Bewegung) vollzieht sich nun eine Veränderung im Willen. Normalerweise geht jeder gewöhnlichen Betätigung eine Initiative voraus. Die Tat wird mehr oder weniger bewußt ausgeführt. Durch die Eurythmie wird aber gerade diese Initiativkraft am eminentesten angesprochen.

„Die Initiative des Willens wird gestärkt, wenn man Bewegungen ausführt als Kind, wo jede einzelne Bewegung eine seelische zu gleicher Zeit ist, wo Seele sich hineinergießt in jede einzelne Bewegung..." (s. R. Steiner: Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft. GA – Bib. Nr. 301)

In der willentlich, bewußt eurythmischen Bewegung, die die Kinder und Jugendlichen ausüben, manifestiert sich die steigende Initiativkraft des Willens. Sie wird in einer Zeit der Bewegungsarmut und der Ersetzung aller Arbeitsbewegungen durch technische Geräte, die die Bequemlichkeit eher fördern als die Initiative, zu einem notwendigen Gegengewicht.

Außerdem schult die Eurythmie die Kreativität, die innere Beweglichkeit und die Fähigkeit, komplizierte, sich verändernde Zusammenhänge in Raum und Zeit, insbesondere aber im sozialen Miteinander, wahrzunehmen und zu handhaben. Die Eurythmie dient so als Hilfe für eine gesunde und harmonische Entwicklung.